Begründet die Corona-Pandemie ein Recht auf Neuverhandlung von laufenden Verträgen nach französischem Zivilrecht?

Wie von uns in einem vorangegangenen Artikel dargestellt, ist die COVID-19-Pandemie nach französischem Recht grundsätzlich geeignet, einen Fall von höherer Gewalt (Force Majeure) zu begründen (dazu unser Artikel zur Force Majeure im französischen Recht vom 8. April 2020). Auf dieses Rechtsinstitut soll im Folgenden nicht weiter eingegangen werden.

Zudem sieht Artikel 1195 des französischen Zivilgesetzbuches (Code civil) die Möglichkeit der Neuverhandlung von Verträgen bei Veränderung von Umständen vor (dazu unser Artikel Die Corona-Krise: Hardship und die Veränderung der Umstände). Daneben hat die französische Regierung am 25. März 2020 diverse Verordnungen (https://www.legifrance.gouv.fr) erlassen, die bei Vertragsstörungen in laufenden Verträgen weitere außerordentliche Rechte für die Vertragsparteien vorsehen.

Dieser Beitrag soll die Möglichkeit einer Neuverhandlung von Verträgen, sofern französisches Recht zur Anwendung kommt, näher beleuchten und zur zielgerechten Handhabe der vorgenannten Regelungen beitragen.

1.Neuverhandlung aufgrund von Unvorhersehbarkeit („imprévision“) von Umständen

 a) Anwendungsbereich

Zunächst ist festzuhalten, dass die in Artikel 1195 des Code civil festgelegte Neuverhandlungsmöglichkeit nur auf solche Verträge anwendbar ist, die ab dem 1. Oktober 2016 geschlossen oder erneuert worden sind. Vor diesem Stichtag geschlossene Verträge sind damit von dessen Anwendungsbereich ausgeschlossen.[1]

Die ab dem 1. Oktober 2018 geschlossenen Anlagen- und Wertpapierverträge sind ebenfalls von der Neuverhandlungsmöglichkeit ausgenommen.[2]

Im Übrigen ist der Anwendungsbereich weit gefasst und schließt grundsätzlich auch Rahmenverträge und Dauerschuldverhältnisse mit ein.

b) Anwendungsvoraussetzungen

Eine Vertragspartei könnte aufgrund der Coronakrise die Neuverhandlung des Vertrages verlangen, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:

Eine Veränderung der Umstände

Zunächst müssen Umstände, die außerhalb der Einflusssphäre der Parteien liegen, bei Vertragsschluss unvorhersehbar („imprévisible“) gewesen sein. Dazu gehören Ereignisse, die das vertragliche Umfeld beeinflussen, wie z. B. wirtschaftliche oder umweltverändernde Faktoren (z. B. eine Naturkatastrophe oder ein Börsencrash), gesetzgeberische Maßnahmen oder auch politische Umstände. Das Ereignis darf bei Vertragsschuss „vernünftigerweise“ nicht vorhersehbar („prévisibilité raisonnable“) gewesen sein. Insoweit kann auf die Ausführungen im Rahmen der „Force majeure verwiesen werden. Auch hier dürfte es auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses ankommen: liegt ein solcher bei Mitte bis Ende Februar 2020, so dürfte das Kriterium der Unvorhersehbarkeit fraglich sein.

Damit ist festzuhalten, dass die COVID-19-Krise grundsätzlich als unvorhersehbare Veränderung der Umstände im Sinne von Artikel 1195 des Code civil gewertet werden könnte.

Die Vertragserfüllung muss für eine Partei übermäßig kostspielig („excessivement onéreux“) sein

Die veränderten Umstände müssen für eine Vertragspartei übermäßige Kosten verursacht haben.

Derzeit ist die Begriffsbestimmung und -ausgestaltung der „übermäßigen Kostspieligkeit“ nicht abschließend geklärt. Ein Teil der Rechtslehre versteht darunter nicht nur Kostenerhöhung bei der Leistung des Schuldners (z. B. bei einer Preiserhöhung bei dessen Zulieferer) sondern auch die Wertminderung der Gegenleistung (z. B. bei einem dramatischen Geldwertverfall bei einem unbefristeten Vertrag).

Eine weitere Unsicherheit besteht darin, dass derzeit nicht geklärt ist, ob sich die „übermäßige Kostspieligkeit“ auf ein offensichtliches Missverhältnis zwischen den Kosten der Leistung des Schuldners und dem Wert der Gegenleistung bezieht oder dieses Missverhältnis auch das Gläubigerinteresse zu berücksichtigen hat.

Unklar ist auch, was als Referenzgröße für die Beurteilung der „übermäßigen Kostspieligkeit“ herangezogen werden soll: Sollen objektive und damit allgemeine wertbildende Faktoren zum Tragen kommen oder sollten diese vielmehr konkret und subjektiv in Bezug auf die Lage des jeweiligen Schuldners begutachtet werden?

Die Handelskammer des frz. Kassationsgerichts verneinte das Eingreifen einer vertraglichen Hardshipklausel im Rahmen eines Warenliefervertrages [3] und führt in seiner Begründung aus, dass der Verkäufer sich nicht auf eine Preiserhöhung von Rohstoffen berufen könne, um eine daraus resultierende Erhöhung des Kaufpreises nachverhandeln zu können. Der Verkäufer hätte weder den Nachweis der Kostenerhöhung seiner vertraglichen Leistung erbracht noch wäre ein grobes Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung gegeben. Allein die Vorlage von Presseartikeln und diverser Schreiben von Zulieferern des Verkäufers, die ihrerseits eine Preiserhöhung von 4 bis 16 % ankündigten sowie die Minderung der Bruttomarge des Verkäufers um 58 %, erachtete das Gericht als unzureichend.

Diese Entscheidung zeigt, dass es auf den Einzelfall ankommt und dass nicht eine grundsätzlich schwierige wirtschaftliche Lage des Schuldners letzteren zur Nachverhandlung mit dem Vertragspartner berechtigt.

Hier obliegt es der Rechtsprechung, die Richtlinien und Bewertungsmaßstäbe abschließend auszugestalten.

Keine zugestandene Risikotragung

Eine Vertragspartei kann sich auf die eine Neuverhandlung des Vertrages nicht berufen, wenn sie das Risiko der Veränderung der Umstände akzeptiert hat. Dies dürfte insbesondere bei Pauschal- und Festpreisverträge („marché à forfait“) zutreffen.

Es gilt der Grundsatz der Vertragsfreiheit, so dass im Einzelfall auf den Wortlaut des Vertrages abzustellen ist: Hatten die die Parteien beispielsweise im Vertrag vereinbart, dass nur Rohstoffpreiserhöhungen von über 60 % eine Nachverhandlungspflicht auslösen, so könnte dies als Anzeichen dafür gewertet werden, dass der Schuldner bei einer Preiserhöhung unter 60 % das Risiko trägt.

Zu beachten ist auch, die Vertragsfreiheit durch bestimmte ordentliche Rechtsinstrumente beschränkt werden und Schadensersatzpflichten auslösen kann. So verbietet es insbesondere Artikel L. 442-1 Abs. 1 Nr. 2 (ehem. Artikel L. 442-6, Abs. 1, Nr. 2 a. F. ) des französischen Handelsgesetzbuches (Code de commerce) der anderen Partei Pflichten aufzuerlegen, die zu einem bedeutenden Missverhältnis unter den Vertragspartnern („déséquilibre significatif“) führen könnten.

c) Rechtsfolge

Liegen die Voraussetzungen vor, dann kann die betroffene Vertragspartei die andere zur Neuverhandlung des Vertrages auffordern; eine explizite Neuverhandlungspflicht besteht allerdings nicht. Sollte es zu Neuverhandlungen kommen, dann dürfen diese eine „vernünftige Dauer“ nicht überschreiten.

Auch wenn kein Formerfordernis vorgesehen ist, so ist es ratsam, entsprechende Nachweise über die Verhandlungsversuche zusammenzustellen, um diese zu dokumentieren. Die Verhandlungen sollten entsprechend Artikel 1112 Code civil unter Berücksichtigung des Grundsatzes von Treu und Glauben durchgeführt werden. Im Streitfalle dürfte diesem Grundsatz – gerade im COVID-19-Kontext – eine besondere Bedeutung zukommen.

Sollte eine Neuverhandlung gelingen, sollte die Vereinbarung schriftlich festgehalten und gleichzeitig sichergestellt werden, dass diese mit dem Ursprungsvertrag harmoniert.

Im Gegensatz zum Instrument der „Force Majeure“ berechtigt Artikel 1195 des Code civil nicht zur Aussetzung der vertraglichen Leistungspflicht des Schuldners. Im Gegenteil: Während der Dauer der Verhandlungen ist der Schuldner verpflichtet, weiter seine Leistung zu erbringen.

Sollte eine Neuverhandlung nicht möglich sein, können die Parteien die Auflösung des Vertrages nebst Auflösungsbedingungen vereinbaren. Sollte auch dies nicht möglich sein, können entweder beide Parteien gemeinsam oder eine von ihnen die gerichtliche Anpassung oder Auflösung des Vertrages beantragen.

Wichtig ist, dass Artikel 1195 Code civil keinen direkten Entschädigungsanspruch begründet, so dass das mögliche Recht auf Neuverhandlung mit anderen Anspruchsgrundlagen zu kombinieren ist.

 

2. Kombination des Anspruchs auf Neuverhandlung mit anderen Rechtsinstituten

a) Kombination mit den außerordentlichen Maßnahmen der französischen Regierung

Die französische Regierung hat mit diversen Verordnungen vorübergehende Eingriffsnormen geschaffen, die sich auf Verträge bzw. die Rechte und Pflichten der Parteien auswirken. Der Maßnahme-Katalog beinhaltet insbesondere die Aussetzung von:

– Vertragsstrafen („clause pénale“);

– Vertragsauflösungsklauseln („clause résolutoire“);

– Verwirkungs- und Verfallsklauseln („clause de déchéance“), sofern diese die Nichterfüllung einer Leistungspflicht innerhalb einer bestimmten Frist betreffen;

– Zwangsgeldklauseln („clauses d‘astreinte“);

– Mietzahlungen bei Gewerbemietverträgen („bail commercial“) unter bestimmten Voraussetzungen.

Die vorgenannte Aussetzung ist nur vorübergehend und endet grundsätzlich ein bis zwei Monate nach Ende des von der französischen Regierung verhängten Notstandes („état d’urgence sanitaire“).

Es ist damit festzuhalten, dass die Verordnungen vom 25. März 2020 sich nicht mit dem Anwendungsbereich des Neuverhandlungsrechts aus Artikel 1195 Code Civil überschneiden oder dieses gar verdrängen, sondern dass sie – daneben anwendbar sind und vorwiegend Vertragsstrafen- und fristen vorübergehend „neutralisieren“ können.

b) Kombination mit anderen „klassischen“ Rechtsinstrumenten

Befreiung des Gläubigers von der Gegenleistungspflicht

Praktisch wird es oftmals so sein, dass der Schuldner aufgrund seiner wirtschaftlichen Situation in der Coronakrise seine Leistung nicht erbringt.

Der Gläubiger sollte sich dann entsprechend Artikel 1220 Code Civil auf die Nichterfüllung des Vertrages berufen und hat damit die Möglichkeit, seine eigene Gegenleistungspflicht aussetzen. Er hat diese Aussetzung schnellstmöglich seinem Vertragspartner anzuzeigen.

Vertragserfüllung und Schadensersatz

Daneben könnte der Gläubiger auf Vertragserfüllung (Artikel 1221 Code Civil) klagen. Beruft sich der Schuldner dann auf seinerseits auf gerichtliche Vertragsanpassung oder hilfsweise auf Vertragsauflösung, bestehen für den Gläubiger grundsätzlich zwei Möglichkeiten:

Liegen die Voraussetzungen des Artikels 1195 Code Civil nicht vor, so könnte der Schuldner zur Erfüllung seiner Leistung verurteilt werden. Eventuell könnte sich der Schuldner – je nach Schwere seiner wirtschaftlichen Schwierigkeiten und vorbehaltlich insolvenzrechtlicher Besonderheiten – auf Stundung gemäß Artikel 1343-5 Code Civil berufen.

Daneben besteht für den Gläubiger die Möglichkeit auf Geltendmachung von Schadensersatz entsprechend Artikel 1217 Abs. 7 Code Civil.

Liegen die Voraussetzungen des Artikels 1195 Code Civil für eine Neuverhandlung vor, besteht für den Gläubiger auch noch die Möglichkeit, dass das Gericht den Vertrag in seinem Interesse anpasst. Auch könnte das Gericht dem Antrag des Gläubigers auf Schadensersatz stattgeben, wenn der Schuldner während der Neuverhandlung seiner Leistungspflicht nicht nachgekommen ist.

Grundsätzlich könnten aber auch dem Schuldner Schadensersatzansprüche zugesprochen werden, wenn der Gläubiger leichtfertig die Neuverhandlung des Vertrages abgelehnt hatte.

 

Fazit

Grundsätzlich kann die COVID-19 Pandemie die Möglichkeit zur Neuverhandlung eines Vertrages begründen. Aufgrund der Tatsache aber, dass diese Möglichkeit im französischen Recht erst im Rahmen der Schuldrechtsreform 2016 entstanden ist und dieses Rechtsinstitut vorher in Frankreich unbekannt war, besteht bei dessen Anwendung eine gewisse Rechtsunsicherheit.

Auch die Tatsache, dass, anders als etwa bei Vorliegen höherer Gewalt (Force Majeure), der Schuldner nicht zur Aussetzung seiner Leistung berechtigt ist.

Wichtig ist auch, dass Artikel 1195 dispositives Recht ist und von den Parteien ausgeschlossen oder abgeändert und individuell ausgestaltet werden kann. Denkbar sind beispielsweise die Festlegung von Form, Ablauf und Dauer der Verhandlungen, der Kriterien, wann die übermäßige Kostspieligkeit oder Unvorhersehbarkeit gegeben sein soll oder auch Bestimmungen dahingehend, welche Vertragsklauseln überhaupt nur einer Neuverhandlung unterliegen sollen. Auch Preisindexklauseln erscheinen weiterhin sachdienlich, um ungewünschten Auslegungsspielraum zu vermeiden.

Die Vertragsgestaltung sollte daher – gerade bei grenzüberschreitenden Verträgen im deutsch-französischen Rechtsverkehr –mit äußerster Sorgfalt und Präzision erfolgen.

 

Petra Kuhn, Avocat à la Cour (Lyon), Diplom-Rechtspflegerin (FH)

 

 

[1] Anm. Das französische Recht lehnte vor diesem Stichtag einen Anspruch auf Vertragsanpassung aufgrund veränderter Umstände grundsätzlich ab (ständige Rechtsprechung seit „Canal de Craponne“ – Kassationshof, Zivilkammer vom 6. März 1876). Sog. Hardship-und/oder Preisindexklausel wurden und werden für zulässig befunden und können von sich aus eine Anpassung des Vertrages begründen (s. „Die Corona-Krise: Hardship und die Veränderung der Umstände“).

[2] Artikel L. 211-40-1 des französischen Währungs- und Finanzgesetzes (Code monétaire et financier) entstanden durch Ratifizierungsgesetz Nr. 2018-287 vom 20. April 2018.

[3] Kassationshof, Handelskammer vom 17. Februar 2015, Nrn. 12-29550, 13-18956, 13-20230

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